Rückblick auf die Schwangerschaft mit Samuel
(*29.01.2024 mit stillem Herz, Trisomie 18)
Einleitend:
Unser Sohn Samuel wurde in einer Januarnacht mit einem stillen Herz geboren. Wir sind als Eltern für sein Dasein sehr dankbar und tragen ihn in unseren Herzen weiter.
Ich konnte Samuel durch eine kraftvolle natürliche Geburt in der 37. Schwangerschaftswoche zur Welt bringen. Er wurde uns bald in die Arme gelegt und er strahlte Liebe und eine tiefe Friedlichkeit aus, die uns das Herz erwärmte – obwohl er seine Augen für immer geschlossen hatte. Wir konnten mit ihm innige Stunden verbringen und ihn zuerst einmal begrüssen - auch wenn klar war, dass der Abschied seines körperlichen Daseins bereits begonnen hat.
Als ich mit der Diagnose «Trisomie 18» konfrontiert wurde, war ich um jeden Erfahrungsbericht, Buch oder Anlaufstelle dankbar, die mir Orientierung und Unterstützung geboten hat. Für mich war es sehr schwierig, die Entscheidung zu fällen, ob ich weitertragen will und kann. Es gab vorwiegend Informationen für den Abbruch. Die Option des Weitertragens tat sich bei mir erst auf, indem ich hartnäckig an diesen zuerst nur zaghaft sich meldenden Wunsch dranblieb. Als besondere Herausforderung kam hinzu, dass mein Partner und ich nicht zur gleichen Ausrichtung kamen: Er war für den Abbruch, aber sagte jedoch zu mir, dass ich es bin, die das Kind trägt und somit die Entscheidung bei mir ist. Darüber hinaus bestand die Unsicherheit, dass er möglicherweise nicht bei mir bleiben würde, weil er sich die Mühen mit einem schwerstbehinderten Kind nicht vorstellen konnte. Letztendlich hat er mich doch bis zur Geburt und darüber hinaus begleitet und sind wir in unserer Beziehung weitaus mehr gewachsen als wir es uns je gedacht hätten.
Pränataldiagnostik (13. – 16. Woche):
In der 13. Woche wurde die Pränataldiagnostik durchgeführt und beim Feinultraschall wurden Auffälligkeiten entdeckt: Z.B. eine kleine Omphalozele (es gab ein wenig Dünndarm, der ausserhalb des Bauches lag – in der Nähe der Nabelschnur) und das ist ein Marker für eine chromosomale Störung. Die Nackenfalte war in Ordnung. Mein kleines Baby bewegte sich munter und wir freuten uns über das kleine Wunder, das uns mit so viel Lebensenergie begrüsste. Samuel – wie wir ihn später nannten - war für mich das lang ersehnte Kind (ich war bereits über 40), mein Partner tastete sich erst langsam heran, nochmals Vater zu werden. Bei diesem Feinultraschall war er für ein paar Minuten auch überglücklich, da unser kleines Baby auf den ersten Blick völlig in Ordnung aussah - bis es hiess, dass nach der Untersuchung ein Gespräch notwendig ist und er doch nicht – wie geplant – früher gehen konnte.
Es folgte die Aufklärung, dass eine invasive Pränataldiagnostik notwendig ist. Genau das wollte ich eigentlich vermeiden. Ich entschied mich für die Fruchtwasseruntersuchung, die 3 Wochen später in der 16. SSW durchgeführt wurde. In der Zwischenzeit bis zur Untersuchung drehten sich bei mir die Gedanken: Befürchtungen – fatalistische Gedanken und Hoffnungen, dass alles gut gehen kann, wechselten sich ab. Bereits zu diesem Zeitpunkt suchte ich eine Beratungsstelle für Schwangere auf (in Deutschland, da ich in der Schweiz kein entsprechendes Beratungsangebot ausserhalb des Spitals finden konnte), den Verein «Donum Vitae», um in dieser nervenzerrenden Situation Unterstützung zu erhalten. Die damalige Beraterin sagte mir u.a., dass ich auch das Recht auf Nichtwissen habe. Das war mir neu und klang für mich zuerst etwas befremdlich. Aber nachdem ich von unterschiedlichen Geschichten und Verläufen bei pränatalen Diagnosen gehört und gelesen habe, kann ich verstehen, dass diese Option durchaus eine ernstzunehmende Entlastung bieten kann: Wenn es z.B. für ein Paar klar ist, dass sie das Kind mit egal welchen Behinderungen oder Diagnosen usw. dennoch bekommen möchten.
Ich wollte wissen, was auf mich zukommt. Für mich war es wichtig, Informationen zu erhalten, um mich vorbereiten zu können. Meine Verzweiflung und Bangen waren nach den beunruhigenden Nachrichten gross. Ich habe mit ein paar Freundinnen über meine Situation gesprochen und sie haben mich zum Teil beruhigt oder einfach durch ihr Dasein begleitet. Auch mein Partner war an meiner Seite – nur dass er selbst sehr unter Spannung stand und endlich genauere Informationen haben wollte.
Am 11. Sept. 2023 war es so weit, die Fruchtwasserpunktion wurde vorgenommen und am nächsten Tag um 16 Uhr wurde uns das Ergebnis im Untersuchungszimmer übermittelt. Bereits beim Verlassen der Wohnung machte sich bei mir eine Leere breit: Keine Hoffnung, kein Bangen. In diesem Zustand traf ich mich vor dem Krankenhaus mit meinem Partner und so gingen wir in dieses Untersuchungszimmer, in dem ich tags zuvor noch auf der Liege der Fruchtwasserpunktion entgegenfieberte, wobei mich eine liebevolle Hebamme mit wohltuenden Lavendeldüften ein wenig Entspannung verschaffte.
Nun sass der Arzt vor uns und konnte nur die traurige – aus seiner Sicht immerhin klare Diagnose «Trisomie 18» übermitteln. Er sprach die Empfehlung für einen Abbruch aus. Er sagte uns, dass mit einer Schwerstbehinderung zu rechnen ist, wenn das Kind überhaupt lebend zur Welt kommt. Das Kind würde mit uns nicht kommunizieren können usw. Ich war noch immer in diesem Zustand der Leere: Ich konnte seine Worte verstehen, aber das, was er sagte, berührte mich nicht. Der Schock führte dazu, dass meine Emotionen auf standby geschaltet waren. Er fragte, ob ich Informationen über den Abbruch wolle und auch dazu sagte ich ja: Er erörterte mit mir, ob ich ein grosses oder kleines Spital für den Abbruch präferieren würde. Ich sagte, eher ein kleines, ohne ein Gefühl für diese Antwort zu haben. Er fragte auch, ob er mir zum Vorgang des Abbruchs noch etwas erzählen sollte. Ich gab ihm auch dafür die Zustimmung. Der analytische Teil meines Gehirns war wach und nahm die Informationen auf. Ich sagte ihm noch, dass ich nicht in wenigen Tagen (es war Dienstag) in derselben Woche über den Abbruch entscheiden werde, sondern mindestens bis zur nächsten Woche Zeit brauche. Dass es letztendlich mehrere Wochen wurden, bis ich innerlich so weit war, ahnte ich damals nicht. Mein Partner war neben mir: Völlig betroffen und wie von einem Tsunami überrollt, verliessen wir diesen Raum und das Krankenhaus. Wir waren kaum fähig zu reden. Es war klar, dass wir diese Stadt verlassen mussten und fuhren mit dem Motorrad 60 km in Richtung seiner Wohnung. Der scharfe Fahrtwind tat mir gut und hier kamen erste Tränen. Die Erstarrung durch die traumatisierende Nachricht löste sich nur langsam. Am Abend machten wir noch einen Spaziergang in einem fast schon dunklen Wald am Stadtrand. Die Umgebung der Natur tat uns gut. Wir kehrten zurück und schliefen erschöpft ein.
Zeit der Entscheidungsfindung: Abbruch oder Weitertragen
Die kommenden Tage und Wochen waren von tiefer Verzweiflung geprägt, einer beginnenden Auseinandersetzung und damit verbundenen rasanten Informationsaufnahme zur Trisomie 18. Dennoch versuchten mein Partner und ich immer wieder etwas zu unternehmen, das uns ablenkte und nicht ständig in den schmerzhaften Abgrund zog. In dieser Zeit war für mich die Beratung bei Donum Vitae (Verein zur Beratung von Schwangeren, DE): Die Beraterin sagte mir, dass ich Zeit habe und mich nicht drängen lassen muss. Das verringerte meinen akuten Leidensdruck. Weiters sagte sie mir auch, dass ich noch immer schwanger sei. Denn es fühlte sich alles sehr verkehrt an – als wäre mir das Schwangersein schon ein Stück weit genommen worden, denn mein Kind würde nicht oder kaum leben können und die Empfehlung zum Abbruch war ausgesprochen. Diese Zeit war für mich sehr schwer und ich fühlte mich in die Enge getrieben, wo es kein Richtig mehr in meinem Leben gab. In dieser existentiellen Krise liess ich mich von meiner Arbeit zum Grossteil beurlauben bzw. war ich krankgeschrieben. Ich habe nur einige wenige Termine wahrgenommen, die mir aber manchmal sogar guttaten, da sie mir ein Stück Alltag zurückgaben, den ich zwischenzeitlich völlig verloren hatte. Es fiel mir auch schwer, mir nahestehende Menschen über mein bzw. unser Schicksal zu informieren. In den ersten Tagen blieb das «Diagnose-Urteil» bei mir und meinem Partner, danach war ich in der Beratung von Donum Vitae und erst danach begann ich die Nachricht nach aussen zu tragen. In den ersten Gesprächen mit Freundinnen gehörte das Weinen dazu und die Gespräche dauerten meist eine Stunde oder mehr. Meine Familie informierte ich erst danach, da ich seit rund 10 Jahren im Ausland wohne und meine Eltern, Geschwister rund 800 km entfernt leben. Zuerst waren es direkte Gespräche und erst danach kamen die Telefongespräche. Mehr als zirka eines pro Tag schaffte ich nicht. Zwischendurch Abstand zu haben, sich gemeinsam abzulenken, war gut. Und es ist mir und meinem Partner auch gelungen. Dafür war ich ihm sehr dankbar, dass ich ihn zum Anhalten und Entfliehen hatte. Obwohl es klar war, dass wir der Diagnose nicht wirklich entfliehen konnten. Aber diese Pausen – wo wir uns nicht permanent der Tristesse stellten, taten uns gut und gaben uns die Stabilität, um überhaupt einen Fuss vor den anderen zu setzen und uns irgendwie in der neuen Realität einzufinden.
Meine Aufgabe der Entscheidungsfindung erschien mir grundsätzlich schier unlösbar und eine Zumutung: Ich sollte über das Weiterleben oder Nicht-mehr-Leben meines Kindes entscheiden. Ich sollte -laut Empfehlung- das Leben dieses kleinen Wesens in mir, was mich die vergangenen Wochen und Monate tief glücklich gemacht hat, beenden. Meine damalige Lebensrealität fühlte sich absurd an und in keiner Weise mit mir vereinbar. Ich fühlte mich verloren, in einer Ohnmacht der fieberhaften Auseinandersetzung mit der Diagnose und den Prognosen meines Kindes. Ich sah kaum einen Weg, wie ich eine mit mir und meiner Lebenssituation in Einklang stehende Entscheidung treffen kann. Mir war bewusst, dass ich in einer existentiellen Krise stecke und dass ich jetzt mehr als gefordert bin. Es war wichtig, dass ich mit Menschen wie meiner ehemaligen Nachbarin – zu der ich eine menschlich sehr starke, vertrauensvolle Beziehung habe – reden konnte und die mir sehr genau zuhörte und fähig war, mein Herz anzusprechen. Denn manchmal verstehe ich erst, was ich wirklich will und nicht will, wenn jemand anderer es ausspricht und dann bei mir eine positive oder negative emotionale Resonanz entsteht. Selbst spüre ich das manchmal gar nicht so deutlich. Sie sagte, zu einem frühen Zeitpunkt, wenn ich den Mut habe, den für mich weitaus schwieriger erscheinenden Weg des Weitertragens zu gehen, dann wird auch die Kraft kommen. Und an diesem Punkt wurde ich wieder lebendig – ich spürte, dass ich da hin will, ohne noch genau den Weg zu kennen, mir das zu diesem Zeitpunkt zuzutrauen. Ich hatte grosse Angst, diesen möglichen Weg nicht zu schaffen, diesen für mich weiten Weg – der weiteren Schwangerschaft und Geburt mit all den Unsicherheiten und Erfordernissen. D.h. ich hatte Angst, dass ich die Tragweite der Aufgabe nicht richtig erkenne und mir dann letztendlich das Scheitern vorwerfen muss. Ich musste auch bedenken, eine eventuell allein sorgende Mutter zu sein, die mit all den physischen Herausforderungen ihres Babys zurechtkommen soll. Und dieser Satz von meiner Nachbarin: «Wenn Du den Mut hast, wird auch die Kraft kommen, es zu tun», hat zwar bei mir nicht alle Zweifel ausgeräumt, aber dennoch eine Perspektive des Zutrauens aufgemacht, der ich dann auch letztendlich gefolgt bin.
Es gab auch noch weitere Personen, die ich kontaktierte oder Gespräche führte. Eine davon war eine alternative Heilpraktikerin: Ich hatte sie kennengelernt, als ich um das Leben meines Vaters bangte – das war ein Jahr vor meiner Schwangerschaft und sie hatte ihn mit guten/natürlichen Nahrungsergänzungsmitteln sowie weiteren alternativen Heilmethoden unterstützt. Ich hatte bei ihr auch das Gefühl, dass sie jemanden menschlich aufbauen kann, wenn man an seine Grenzen kommt. Und so kontaktierte ich sie telefonisch (sie lebt in meinem Heimatort – also 800 km entfernt). Sie hat mir tatsächlich bei der Wegfindung (Entscheidungsfindung) sehr geholfen und ist mir darüber hinaus bis zur Geburt beigestanden. Auch sie konnte mir die Entscheidung nicht abnehmen. Das konnte niemand. Und es gab für mich auch keine letztgültige Orientierung/Autorität, die ausserhalb von mir lag. Die Entscheidung musste aus mir kommen – ich sah keine andere berechtigte Instanz, der ich die Verantwortung abgeben oder auf die ich mich ausruhen wollte. Ich hätte ja sagen können, dass ich die Empfehlung des Arztes annehme, aber für mich war klar, dass damit für mich das letzte Wort noch lange nicht gesprochen war. Ich wollte mir selbständig ein möglichst klares Bild über mich und mein Baby und wie wir weitermachen wollen und können, verschaffen. Nur gab es im professionellen Umfeld primär Informationen zum Abbruch und viel zu wenig Informationen zum Weitertragen. Die alternative Heilpraktikerin arbeitete so mit mir, dass sie mich als Mensch wieder stärkte, mir ermöglichte, dass ich die Verbindung zu meinem Kind wieder mehr aufbaute – was ich mir sehr wünschte und Übungen zur Hand gab, wie ich mich mit den zwei Wegen vertrauter mache: Sie sagte mir, dass der Weg des Weitertragens noch wenig ausgeleuchtet ist. Daraufhin bemühte ich mich, diesen Weg auszuleuchten und fand tatsächlich Menschen und entscheidungsunterstützende Literatur: Von einer Freundin und Betroffenen erhielt ich einen Einblick in ihre Geschichte mit einem Kind, das eine chromosomale Anomalie hatte, aber gleichsam sprach sie auch meinen analytischen Geist durch entsprechende Literatur an.
In einem letzten Schritt trat ich in vermehrten Kontakt mit meinen Geschwistern und Eltern. Es verstrich gerade wieder ein Wochenende mit intensiver Auseinandersetzung und langsam rückte das selbst gesetzte Ultimatum der Entscheidungsfindung näher – es waren mittlerweile mehr als 2 Wochen vergangen. Ich war zur vorläufigen Überzeugung gelangt, dass ein Abbruch der sinnvollere Weg sein muss. Das erzählte ich meiner Mutter am Telefon und wollte sie auf meine Entscheidung vorbereiten. Mein Partner atmete neben mir auf, da ihm diese Entscheidung lieber war. Meine Mutter sagte mir dann, vielleicht kannst Du danach auch nochmals versuchen, ein Kind zu bekommen und genau dieser Satz löste in mir den Gedanken aus: Und wenn nicht? Ich habe jetzt ein Kind im Bauch. Ausserdem ist es unwahrscheinlich, dass es mein Partner nochmals mit mir versuchen würde. Die Perspektive bald ohne mein Kind im Bauch zu sein, liess Bilder und schreckliche Gefühle auftauchen: Es tat sich ein Loch auf, das meine Lebensenergie aufsaugte. Es fühlte sich für einen Moment so trostlos und lebens- und sinnentleert an, sodass ich wusste – nein, diesen Weg werde ich nicht gehen. Er bedeutet meinen persönlichen Abgrund. Mit dieser Klarheit konnte ich dann die Entscheidung treffen: Ich werde meinen Samuel weitertragen. Und dann kam tatsächlich sehr viel Kraft in mein Leben.
Zeit des Weitertragens bis zur Geburt
Danach nahm ich wieder meine Arbeit auf: Das hiess gleich die Durchführung einer intensiven Seminarwoche mit vielen Teilnehmenden. Ich war glücklich, dass es mir sogar relativ leichtfiel und sich bei mir auch mehr innere Ruhe bemerkbar machte, als ich sie sonst an den Tag legte. Die Aufnahme meiner Arbeit bedeutete, dass es sich zu einem gewissen Zeitpunkt nicht mehr vermeiden lässt, dass meine Schwangerschaft nach aussen hin sichtbar wird. Jedoch wollte ich es vermeiden, dass ich danach gefragt werde. Denn ich hatte nicht vor, meine berufliche Umgebung zu informieren, dass mein Kind höchstwahrscheinlich nur kurz leben wird, wenn überhaupt. Die andere Option, nichts zu sagen und eine glückliche Schwangerschaft vorzutäuschen erschien mir auch nicht angebracht. Vorerst versuchte ich sie vor meinen Kolleg*innen zu verstecken. Mittlerweile überschritt ich die 20. Woche und es war sinnvoll, wieder eine Kontrolluntersuchung zu machen. Einen Termin bekam ich erst für den 8. November. D.h. mein kleiner Junge konnte sich nach der ohnehin fatalen Diagnose rund 2 Monate ohne Kontrolluntersuchung weiterentwickeln. Mir war es nicht unrecht, da die erfahrungsmässige Prognose bei Trisomie 18 nur in Aussicht stellte, dass eine Menge an belastenden Auffälligkeiten an diversen Organen oder Gliedmassen festgestellt wird. Nur dann wurde ich mit der verstreichenden Zeit doch etwas nervös: Wie lange wird mein Kind in meinem Bauch leben? Wird er Weihnachten überstehen? Der errechnete Geburtstermin war Ende Februar, aber es gab auch Berichte, dass Kinder relativ früh im Bauch versterben. Was wird der Arzt, der uns die furchtbare Diagnose stellte, alles sehen? Welche Entscheidungen werde ich dann treffen müssen?
Bevor ich diesen Termin hatte, war ich seit dem Sommer das erste Mal wieder bei meiner Familie. Es war entspannt. Ich hatte das Gefühl, dass sie mit meinem Weg einverstanden sind. Und dass auch meine «unbekannte Grösse» im Bauch bei ihnen sehr willkommen ist und das drückte sich z.B. so aus, dass neben mir auch ihm liebevoll «Gute Nacht» gesagt wurde.
In meinem Heimatort konnte ich auch die Heilpraktikerin, meine Beraterin aus der Ferne, vor Ort treffen: Ich erzählte ihr nun persönlich meine aktuelle Verfassung und es wurde klar, dass mein Urvertrauen in das eigene Leben und dass es das Leben mit mir gut meint, stark erschüttert war. Ich hatte eine gewisse Grundangst vor der Zukunft und dem bevorstehenden Ereignis – der Untersuchung meines Kindes. An diesem Punkt konnte sie gut ansetzen und regte mich dazu an Ressourcen zu finden, die diese Zerrüttung heilen. Durch eine Entspannungsreise und bestimmte innere Bilder gelang mir das auch. In Bezug auf die bevorstehende Untersuchung bereiteten wir uns gemeinsam vor. Insgesamt tat mir der Aufenthalt im eigenen Familienkreis sehr gut. Mit dieser neuen Kraft bin ich auch den weiteren Untersuchungen entgegengegangen. Der Arzt fand heraus, dass sich mein Kleiner für seine Verhältnisse relativ gut entwickelt hatte: Sein Herz – was meistens eine sehr grosse Schwachstelle bei Trisomie 18 ist – war stark genug, um seinen Körper gut zu versorgen. Samuel hatte zwar einen VSD (ein Loch in der Herzscheidewand), aber es war nicht so gross und lag an keiner gefährlichen Stelle. Der Arzt nahm sich mehr als eine Stunde Zeit um das Herz genau zu untersuchen sowie auch die weiteren Organe – wie Nieren, Blase, Magen, Darm usw.: Sie arbeiteten gut. Auch die Physiognomie war wenig auffällig. Seine Füsse zeigten ein wenig die Trisomie 18 an, aber er konnte die Finger gut öffnen und schliessen - sie waren nicht verkrampft, was ich eigentlich befürchtete. Ich freute mich, als ich sah, wie gut er sie trainierte. Ich wünschte mir, dass er mit ihnen die Welt spüren und erkunden darf. Bei seinem Gehirn gab es eine grosse Auffälligkeit – er hatte keinen Balken (keine Verbindung) zwischen den beiden Gehirnhälften. Ein fehlender Balken kann zu unterschiedlichen Ausprägungsgraden von Beeinträchtigungen führen: Eine äusserst starke Behinderung bis zur leichten oder einer kaum vorhandenen Beeinträchtigung. Auch das Kleinhirn war nicht normal entwickelt.
Dennoch war das Untersuchungsergebnis weitaus besser als mein Erwartungshorizont. Und es stand die Aussicht auf eine Lebendgeburt bevor: Das zeigte sich daran, dass Gespräche mit dem (grösseren) Spital anberaumt wurden, um so auf meinen Kleinen mit den besonderen Bedürfnissen vorbereitet zu sein. Das Ergebnis der Untersuchung vom 12. November (es gab einen weiteren Untersuchungstermin nach dem 8. Nov.) war ein wunderschöner Lichtblick für mich, da ich mich nun auf das mögliche Kennenlernen meines Sohnes vorbereiten durfte. Es hätte auch sein können, dass sie mir sagen, dass dieses oder jenes Organ Fehlfunktionen hat usw. und ich mich auf einen baldigen Abschied einstellen muss. Aber so war es nicht. Das heisst, dass ich Ende des Jahres zumindest eine rudimentäre Baby-Ausstattung anzuschaffen begann: Kinderwagen, Beistellbett, Sitz mit Schale für das Auto, um ihn – so es sein sollte – mit nach Hause nehmen zu dürfen. Ich stellte die Dinge jedoch nicht auf. Ich hatte Hemmungen, es zu tun und meine Hebamme sagte mir, dass ich das auch dann machen kann, wenn es wirklich so weit ist. Dieses Untersuchungsergebnis führte dazu, dass ich ausgehend vom Schlimmsten nun grosse Freude verspürte, bei der Hoffnung, ihn vielleicht sogar lebendig vor mir zu haben, zu spüren. Mein Partner hatte kurz nach diesem Ergebnis seine 3-wöchige Reise nach Lateinamerika. Danach sahen wir uns Anfang Dezember wieder, wobei mein Bauch bereits auf eine unübersehbare Grösse angewachsen war. Ich hatte inzwischen meine Freude mit dem Spüren seiner Bewegungen intensiviert, spielte ihm allabendlich eine Spieluhr vor und sagte ihm Gute Nacht und guten Morgen. Mein «gute Nacht» quittierte er meist mit einem Tritt. Es war schön, ihn so aktiv in meinem Bauch zu erleben. Er strampelte auch fleissig, wenn ich unter Leuten war – bei Meetings, Seminaren oder sonstigen Ereignissen, die mit anderen Menschen einhergingen. Mein Partner versuchte den Bindungsaufbau minimal zu halten, da ihm der drohende Verlust Sorgen machte. Das war etwas schmerzhaft für mich, da ich die Freude über das Dasein unseres Kleinen gerne geteilt hätte. Dennoch strich er manchmal über meinen Bauch und ich schaute auch, dass er unseren lebendigen Jungen auch mal spüren kann, indem ich seine Hand manchmal nahm. Gerade frühmorgens strampelte er gerne: Dann dachte ich bei mir – auch so ein Frühaufsteher wie mein lieber Mann.
In der Arbeit war es dann auch offensichtlich, dass ich schwanger war. Es war nun für mich in Ordnung, dass daraufhin strahlend freudige Reaktionen kamen. Ich fand, dass es in Ordnung ist, dass man sich auf mein Baby freut und mir Glückwünsche ausspricht. Auch wenn ich wusste, dass es wahrscheinlich ist, dass ich ihn nur kurz bei mir haben kann. Mir war die Freude lieber als erschrockene Gesichter, mit denen ich bei einer ehrlichen Offenbarung rechnen musste. Nur meine direkte Vorgesetzte wusste von den Diagnosen und Prognosen sowie das Personalmanagement: Hier ging es um die Abklärung der unterschiedlichen Varianten des Verlaufs meiner Schwangerschaft: Worauf habe ich Anspruch, worauf nicht – welche Unterstützung könnte ich erhalten usw. Ich wusste bereits im November, dass ich auch bei einer vorzeitigen Geburt oder Totgeburt das Anrecht auf den Mutterschaftsurlaub haben werde. Ab einer bestimmten Anzahl von Wochen tritt diese Bestimmung in Kraft.
Im Dezember fand die Überstellung zum Universitätsspital statt, welches über eine Neonatologie verfügt und somit für mein Kind notwendig war. Der Erstkontakt mit abermaliger Untersuchung (18.12.) führte zur Bestätigung der Untersuchungsergebnisse. Die verantwortliche Ärztin empfahl mir, dass ich das Kind möglichst natürlich gebären soll. Das Gespräch schwenkte im Grossen und Ganzen auf eine palliative Geburt ein, obwohl sie diese nicht direkt beim Namen nannte. Mir wurde gesagt, dass es durch die Versorgung der Plazenta hin zum kindlichen Organismus einen Druck Richtung Herz gibt, der für das Kind problematisch werden könnte. Gleichzeitig rieten sie mir davon ab, ihn früher zu holen, da er dann schwächer auf die Welt kommen würde und noch weiter reduzierte Lebenschancen hätte, die ja ohnehin schon sehr gering waren. Es wurden dann weitere Fragen bezüglich der Geburt und mögliche nachfolgende Behandlungen aufgeworfen: Sie erstreckten sich von der Unterstützung der Beatmung bis hin zu möglichen Operationen – z.B. der Nabelschlingen, die ausserhalb des Bauches waren (Omphalozele). Diese Operation versuchte man gleichzeitig auch zu vermeiden, sodass wir Zeit mit unserem Kind hätten und nicht durch eine Operation mit ungewissem Ausgang (aufgrund der Schwäche des Kindes) davon abgehalten werden würden. Auf die vorgeschlagenen Vorgehensweisen zur Lebenserhaltung und Versorgung der Omphalozele eine Zustimmung zu geben, war zuerst schwierig. Da bei jedem Schritt letztendlich bei mir als Mutter sehr viel Verantwortung lag und mein Wissen gering war. Es lässt sich nicht leugnen, dass ein Kind mit Trisomie 18 nicht gleichbehandelt wird, wie ein gesundes. Hier kann die Frage angeschlossen werde, ob das so in Ordnung ist. Aber diesen Kampf (mit den Ärzten und dem Spital) wollte und konnte ich nicht mehr führen. Ich entschied mich dafür, einen möglichst natürlichen Weg mit Samuel zu gehen, denn ich sagte einmal zu meinem Kleinen im Bauch: Dass ich nicht weiss und beurteilen kann, wie es sich anfühlt, mit den körperlich schwierigen Bedingungen draussen – ausserhalb des Bauches – überleben zu müssen. Ich möchte ihn zwar gerne kennenlernen, aber dass ich ihm meinen Willen nicht aufdrängen werde. Ich habe für ihn gekämpft, dass er in meinem Bauch bleiben konnte. Aber ich habe ihn nicht früher holen lassen und bin so dieses Mal der Empfehlung der Ärztin gefolgt.
Insgesamt ging ich freudig auf die Weihnachtsferien zu. Es stellte sich bei mir und meinem Partner die alljährliche Frage, wo wir Weihnachten verbringen werden. In diesem Jahr fiel die Entscheidung auf die familiäre Seite meines Partners und es wurde ein schönes Fest, das wir im kleinen Kreis sehr genossen haben. Silvester verbrachten wir in einem Haus in den Bergen zu zweit. Erst danach besuchte ich nochmals meine Familie. Auch die lange Reise mit dem Zug ging gut, obwohl ich schon in der 32./33. Woche war. Am 15. Januar gab es nochmals eine Untersuchung. Man stellte hier eine Vergrösserung des Herzens meines Kleinen fest, aber es gab keine weiteren Hinweise oder Warnungen. Auf diese Weise ging ich danach wieder nach Hause und wurde vereinbart, dass ich zur Geburt wiederkomme.
Literatur – meine Leseliste – eine Auswahl:
- Handbuch «Weitertragen - Wege nach pränataler Diagnose.» Begleitbuch für Eltern, Angehörige und Fachpersonal (von Kathrin Fezer Schadt & Carolin Erhardt-Seidl, 2018)
- «Lilium Rubellum» (2014) Kathrin Schadt (Roman – Darstellung von unterschiedlichen Entscheidungswegen nach der Pränataldiagnostik in Romanform)
- «Franziska, die Trisomie und das stille Ende. Tagebuch einer Schwangerschaft.» (Renate Ebert)
- «Umarmen und Loslassen» Geschichte von Jael (Ehepaar Shabnam und Wolfgang)
- «Solange das Herz schlägt» (2024) Artikel im Onlinemagazin Republik
Beratungsstellen im Raum Nordwestschweiz + Süddeutschland:
Donum Vitae (Freiburg/Breisgau) - donum-vitae-freiburg.de : Meine erste Ansprechpartnerin war Elisabeth Baumstark Biehl (mittlerweile in Pension, arbeitet in privater therapeutischer Praxis weiter)
Kindsverlust.ch: www.kindsverlust.ch – Kerstin Rödiger: Seelsorgerin (im Universitätsspital Basel) – Trauerarbeit
LEONA …
Kontakt
LEONA – Familienselbsthilfe bei seltenen Chromosomen- veränderungen e.V.
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