Inhalt
Samuel
Samuel – geb. Jan. 2024 mit stillem Herz
Einleitend:
Unser Sohn Samuel wurde in einer Januarnacht mit einem stillen Herz geboren. Wir sind als Eltern für sein Dasein sehr dankbar und tragen ihn in unseren Herzen weiter.
Ich konnte Samuel durch eine kraftvolle natürliche Geburt in der 37. Schwangerschaftswoche zur Welt bringen. Er wurde uns bald in die Arme gelegt und er strahlte Liebe und eine tiefe Friedlichkeit aus, die uns das Herz erwärmte – obwohl er seine Augen für immer geschlossen hatte. Wir konnten mit ihm innige Stunden verbringen und ihn zuerst einmal begrüssen - auch wenn klar war, dass der Abschied seines körperlichen Daseins bereits begonnen hat.
Als ich mit der Diagnose «Trisonomie 18» konfrontiert wurde, war ich um jeden Erfahrungsbericht, Buch oder Anlaufstelle dankbar, die mir Orientierung und Unterstützung geboten hat. Für mich war es sehr schwierig, die Entscheidung zu fällen, ob ich weitertragen will und kann. Es gab vorwiegend Informationen für den Abbruch. Die Option des Weitertragens tat sich bei mir erst auf, indem ich hartnäckig an diesen zuerst nur zaghaft sich meldenden Wunsch dranblieb. Als besondere Herausforderung kam hinzu, dass mein Partner und ich nicht zur gleichen Ausrichtung kamen: Er war für den Abbruch, aber sagte jedoch zu mir, dass ich es bin, die das Kind trägt und somit die Entscheidung bei mir ist. Darüber hinaus bestand die Unsicherheit, dass er möglicherweise nicht bei mir bleiben würde, weil er sich die Mühen mit einem schwerstbehinderten Kind nicht vorstellen konnte. Letztendlich hat er mich doch bis zur Geburt und darüber hinaus begleitet und sind wir in unserer Beziehung weitaus mehr gewachsen als wir es uns je gedacht hätten.
Rückblick auf die Pränataldiagnostik (13. – 16. Woche):
In der 13. Woche wurde die Pränataldiagnostik durchgeführt und beim Feinultraschall wurden Auffälligkeiten entdeckt: Z.B. eine kleine Omphalozele (es gab ein wenig Dünndarm, der ausserhalb des Bauches lag – in der Nähe der Nabelschnur) und das ist ein Marker für eine chromosomale Störung. Die Nackenfalte war in Ordnung. Mein kleines Baby bewegte sich munter und wir freuten uns über das kleine Wunder, das uns mit so viel Lebensenergie begrüsste. Samuel – wie wir ihn später nannten - war für mich das lang ersehnte Kind (ich war bereits über 40), mein Partner tastete sich erst langsam heran, nochmals Vater zu werden. Bei diesem Feinultraschall war er für ein paar Minuten auch überglücklich, da unser kleines Baby auf den ersten Blick völlig in Ordnung aussah - bis es hiess, dass nach der Untersuchung ein Gespräch notwendig ist und er doch nicht – wie geplant – früher gehen konnte.
Es folgte die Aufklärung, dass eine invasive Pränataldiagnostik notwendig ist. Genau das wollte ich eigentlich vermeiden. Ich entschied mich für die Fruchtwasseruntersuchung, die 3 Wochen später in der 16. SSW durchgeführt wurde. In der Zwischenzeit bis zur Untersuchung drehten sich bei mir die Gedanken: Befürchtungen – fatalistische Gedanken und Hoffnungen, dass alles gut gehen kann, wechselten sich ab. Bereits zu diesem Zeitpunkt suchte ich eine Beratungsstelle für Schwangere auf, den Verein «Donum Vitae», um in dieser nervenzerrenden Situation Unterstützung zu erhalten. Die damalige Beraterin sagte mir u.a., dass ich auch das Recht auf Nichtwissen habe. Das war mir neu und klang für mich zuerst etwas befremdlich. Aber nachdem ich von unterschiedlichen Geschichten und Verläufen bei pränatalen Diagnosen gehört und gelesen habe, kann ich verstehen, dass diese Option durchaus eine ernstzunehmende Entlastung bieten kann: Wenn es z.B. für ein Paar klar ist, dass sie das Kind mit egal welchen Behinderungen oder Diagnosen zu einer starken usw. dennoch bekommen möchten.
Ich wollte wissen, was auf mich zukommt. Für mich war es wichtig, Informationen zu erhalten, um mich vorbereiten zu können. Meine Verzweiflung und Bangen waren nach den beunruhigenden Nachrichten gross. Ich habe mit ein paar Freundinnen über meine Situation gesprochen und sie haben mich zum Teil beruhigt oder einfach durch ihr Dasein begleitet. Auch mein Partner war an meiner Seite – nur dass er selbst sehr von dieser Anspannung, endlich genauere Informationen haben zu wollen, betroffen war.
Am 11. Sept. 2023 war es so weit, die Fruchtwasserpunktion wurde vorgenommen und am nächsten Tag um 16 Uhr wurde uns das Ergebnis im Untersuchungszimmer übermittelt. Bereits beim Verlassen der Wohnung machte sich bei mir eine Leere breit: Keine Hoffnung, kein Bangen – einfach nichts. In diesem Zustand traf ich mich vor dem Krankenhaus mit meinem Partner und so gingen wir in dieses Untersuchungszimmer, in dem ich tags zuvor noch auf der Liege der Fruchtwasserpunktion entgegenfieberte, wobei mich eine liebevolle Hebamme mit wohltuenden Lavendeldüften ein wenig Entspannung verschaffte.
Nun sass der Arzt vor uns und konnte nur die traurige – aus seiner Sicht immerhin klare Diagnose «Trisonomie 18» übermitteln. Er sprach die Empfehlung für einen Abbruch aus. Er sagte uns, dass mit einer Schwerstbehinderung zu rechnen ist, wenn das Kind überhaupt lebend zur Welt kommt. Das Kind würde mit
uns nicht kommunizieren können usw. Ich war noch immer in diesem Zustand der Leere: Ich konnte seine Worte verstehen, aber nichts berührte mich von dem, was er sagte. Als hätte sich mein Menschsein für kurze Zeit ausgeklinkt. Der Schock führte dazu, dass meine Emotionen auf standby geschaltet waren. Ich wurde von ihm noch gefragt, ob ich Informationen über den Abbruch wolle und sagte ja: Er erörterte mit mir, ob ich ein grosses oder kleines Spital präferieren würde. Ich sagte, eher ein kleines ohne ein Gefühl für diese Antwort zu haben. Er fragte auch, ob er mir zum Vorgang des Abbruchs noch etwas erzählen sollte. Ich gab ihm auch dafür die Zustimmung. Mein analytischer Teil des Gehirns war wach und nahm die Informationen auf. Ich sagte ihm noch, dass ich nicht in wenigen Tagen (es war Dienstag) in derselben Woche über den Abbruch entscheiden werde, sondern mindestens bis zur nächsten Woche Zeit brauche. Dass es letztendlich mehrere Wochen wurden, bis ich innerlich soweit war, ahnte ich damals nicht. Mein Partner war neben mir. Völlig betroffen und wie von einem Tsunami überrollt, verliessen wir diesen Raum und das Krankenhaus. Wir waren kaum fähig zu reden. Es war klar, dass wir diese Stadt verlassen mussten und fuhren mit dem Motorrad 60 km in Richtung seiner Wohnung. Der scharfe Fahrtwind tat gut und hier kamen erste Tränen. Die Erstarrung durch die traumatisierende Nachricht löste sich nur langsam. Am Abend machten wir noch einen Spaziergang in einen fast schon dunklen Wald am Stadtrand. Die Umgebung der Natur tat uns gut. Wir kehrten zurück und schliefen erschöpft ein.
Zeit der Entscheidungsfindung: Abbruch oder Weitertragen
Die kommenden Tage und Wochen waren von tiefer Verzweiflung geprägt, einer beginnenden Auseinandersetzung und damit verbundenen rasanten Informationsaufnahme zur Trisonomie 18. Dennoch versuchten mein Partner und ich immer wieder etwas zu unternehmen, das uns ablenkte und nicht ständig in den schmerzhaften Abgrund zog. Wichtig war in dieser Zeit auch die Beratung bei Donum Vitae: Die Beraterin sagte mir, dass ich Zeit habe und mich nicht drängen lassen muss. Das verringerte meinen akuten Leidensdruck. Weiters sagte sie mir auch, dass ich noch immer schwanger sei. Denn es fühlte sich alles sehr verkehrt an – als wäre mir das Schwangersein schon ein Stück weit genommen worden, denn mein Kind würde nicht oder kaum leben können und die Empfehlung zum Abbruch war ausgesprochen. Diese Zeit war für mich sehr schwer und ich fühlte mich in die Enge getrieben, wo es kein Richtig mehr in meinem Leben gab. In dieser existentiellen Krise liess ich mich von meiner Arbeit zum Grossteil beurlauben bzw. war ich krankgeschrieben. Ich habe nur einige wenige Termine wahrgenommen, die mir aber manchmal sogar guttaten, da sie mir ein Stück Alltag zurückgaben, den ich zwischenzeitlich völlig verloren hatte. Es fiel mir auch schwer, mir nahestehende Menschen über mein bzw. unser Schicksal zu informieren. In den ersten Tagen blieb das «Diagnose-Urteil» bei mir und meinem Partner, danach war ich in der Beratung von Donum Vitae und erst danach begann ich die Nachricht nach aussen zu tragen. In den ersten Gesprächen mit Freundinnen gehörte das Weinen dazu und die Gespräche dauerten meist eine Stunde oder mehr. Meine Familie informierte ich erst danach, da ich seit rund 10 Jahren im Ausland wohne und meine Eltern, Geschwister rund 800 km entfernt leben. Zuerst waren es direkte Gespräche und erst danach kamen die Telefongespräche. Mehr als zirka eines pro Tag schaffte ich nicht. Zwischendurch Abstand zu haben, sich gemeinsam abzulenken, war gut. Und es ist mir und meinem Partner auch gelungen. Dafür war ich ihm sehr dankbar, dass ich ihn zum Anhalten und Entfliehen hatte. Obwohl es klar war, dass wir der Diagnose nicht wirklich entfliehen konnten. Aber diese Pausen – wo wir uns nicht permanent der Tristesse stellten, taten uns gut und gaben uns die Stabilität, um überhaupt einen Fuss vor den anderen zu setzen und uns irgendwie in der neuen Realität einzufinden.
Meine Aufgabe der Entscheidungsfindung erschien mir grundsätzlich schier unlösbar und eine Zumutung: Ich sollte über das Weiterleben oder Nicht-mehr-Leben meines Kindes entscheiden. Ich sollte -laut Empfehlung- das Leben dieses kleinen Wesens in mir, was mich die vergangenen Wochen und Monate tief glücklich gemacht hat, beenden. Meine damalige Lebensrealität fühlte sich absurd an und in keiner Weise mit mir vereinbar. Ich fühlte mich verloren, in einer Ohnmacht der fieberhaften Auseinandersetzung mit der Diagnose und den Prognosen meines Kindes. Ich sah kaum einen Weg, wie ich eine mit mir und meiner Lebenssituation in Einklang stehende Entscheidung treffen kann. Mir war bewusst, dass ich in einer existentiellen Krise stecke und dass ich jetzt mehr als gefordert bin. Es war wichtig, dass ich mit Menschen wie meiner ehemaligen Nachbarin – zu der ich eine menschlich sehr starke, vertrauensvolle Beziehung habe – reden konnte und die mir sehr genau zuhörte und fähig war, mein Herz anzusprechen. Denn manchmal verstehe ich erst, was ich wirklich will und nicht will, wenn jemand anderer es ausspricht und dann bei mir eine positive oder negative emotionale Resonanz entsteht. Selbst spüre ich das manchmal gar nicht so deutlich. Sie sagte, zu einem frühen Zeitpunkt, wenn ich den Mut habe, den für mich weitaus schwieriger erscheinenden Weg des Weitertragens zu gehen, dann wird auch die Kraft kommen. Und an diesem Punkt wurde ich wieder lebendig – ich spürte, dass ich da hin will ohne noch genau den Weg zu kennen, mir das zu diesem Zeitpunkt zuzutrauen. Ich hatte grosse Angst, diesen möglichen Weg nicht zu schaffen, diesen für mich weiten Weg – der weiteren
Schwangerschaft und Geburt und … mit all den Unsicherheiten und Erfordernissen. D.h. ich hatte Angst, dass ich die Tragweite der Aufgabe nicht richtig erkenne und mir dann letztendlich das Scheitern vorwerfen muss. Ich musste auch bedenken, eine eventuell allein sorgende Mutter zu sein, die mit all den physischen Herausforderungen ihres Babys zurechtkommen soll. Und dieser Satz von meiner Nachbarin: «Wenn Du den Mut hast, wird auch die Kraft kommen, es zu tun», hat zwar bei mir nicht alle Zweifel ausgeräumt, aber dennoch eine Perspektive des Zutrauens aufgemacht, der ich dann auch letztendlich gefolgt bin.
Es gab auch noch weitere Personen, die ich kontaktierte oder Gespräche führte. Eine davon war eine alternative Heilpraktikerin: Ich hatte sie kennengelernt, als ich um das Leben meines Vaters bangte – das war ein Jahr vor meiner Schwangerschaft und sie hatte ihn mit guten/natürlichen Nahrungsergänzungsmitteln sowie weiteren alternativen Heilmethoden unterstützt. Ich hatte bei ihr auch das Gefühl, dass sie jemanden menschlich aufbauen kann, wenn man an seine Grenzen kommt. Und so kontaktierte ich sie telefonisch (sie lebt in meinem Heimatort – also 800 km entfernt). Sie hat mir tatsächlich bei der Wegfindung (Entscheidungsfindung) sehr geholfen und ist mir darüber hinaus bis zur Geburt beigestanden. Auch sie konnte mir die Entscheidung nicht abnehmen. Das konnte niemand. Und es gab für mich auch keine letztgültige Orientierung/Autorität, die ausserhalb von mir lag. Die Entscheidung musste aus mir kommen – ich sah keine andere berechtigte Instanz, der ich die Verantwortung abgeben oder auf die ich mich ausruhen wollte. Ich hätte ja sagen können, dass ich die Empfehlung des Arztes annehme, aber für mich war klar, dass damit für mich das letzte Wort noch lange nicht gesprochen war. Ich wollte mir selbständig ein möglichst klares Bild über mich und mein Baby und wie wir weitermachen wollen und können, verschaffen. Nur gab es im professionellen Umfeld primär Informationen zum Abbruch und viel zu wenig Informationen zum Weitertragen. Nicole arbeitete so mit mir, dass sie mich als Mensch wieder stärkte, mir ermöglichte, dass ich die Verbindung zu meinem Kind wieder mehr aufbaute – was ich mir sehr wünschte und Übungen zur Hand gab, wie ich mich mit den zwei Wegen vertrauter mache: Sie sagte mir, dass der Weg des Weitertragens noch wenig ausgeleuchtet ist. Daraufhin bemühte ich mich, diesen Weg auszuleuchten und fand tatsächlich Menschen und entscheidungsunterstützende Literatur: Von einer Freundin und Betroffenen erhielt ich einen Einblick in ihre Geschichte mit einem Kind, das eine chromosomale Anomalie hatte, aber gleichsam sprach sie auch meinen analytischen Geist durch entsprechende Literatur an.
In einem letzten Schritt trat ich in vermehrten Kontakt mit meinen Geschwistern und Eltern. Mit meiner Mutter redete ich sehr spät und da dachte ich, dass ich die Entscheidung bereits hätte: Es verstrich gerade wieder ein Wochenende mit intensiver Auseinandersetzung und langsam rückte das selbst gesetzte Ultimatum der Entscheidungsfindung näher – es waren mittlerweile mehr als 2 Wochen vergangen. Ich war zur vorläufigen Überzeugung gelangt, dass ein Abbruch der sinnvollere Weg sein muss. Das erzählte ich meiner Mutter am Telefon und wollte sie auf meine Entscheidung vorbereiten. Mein Partner atmete neben mir auf, da ihm diese Entscheidung lieber war. Meine Mutter sagte mir dann, vielleicht kannst Du danach auch nochmals versuchen, ein Kind zu bekommen und genau dieser Satz löste in mir den Gedanken aus: Und wenn nicht? Ich habe jetzt ein Kind im Bauch. Ausserdem ist es unwahrscheinlich, dass es mein Partner nochmals mit mir versuchen würde. Die Perspektive bald ohne mein Kind im Bauch zu sein, liess Bilder und schreckliche Gefühle auftauchen: Es tat sich ein Loch auf, das meine Lebensenergie aufsaugte. Es fühlte sich für einen Moment so trostlos und lebens- und sinnentleert an, sodass ich wusste – nein, diesen Weg werde ich nicht gehen. Er bedeutet meinen persönlichen Abgrund. Mit dieser Klarheit hatte ich dann die Entscheidung. Ich werde meinen Samuel weitertragen. Und dann kam tatsächlich sehr viel Kraft in mein Leben.
Zeit des Weitertragens bis zur Geburt
Nach der Entscheidung nahm ich wieder meine Arbeit auf: Das hiess gleich die Durchführung einer intensiven Seminarwoche mit vielen Teilnehmenden. Ich war glücklich, dass es mir sogar relativ leichtfiel und sich bei mir auch mehr innere Ruhe bemerkbar machte, als ich sie sonst an den Tag legte. Die Aufnahme meiner Arbeit bedeutete, dass es sich zu einem gewissen Zeitpunkt nicht mehr vermeiden lässt, dass meine Schwangerschaft nach aussen hin sichtbar wird. Jedoch wollte ich es vermeiden, dass ich danach gefragt werde. Denn ich hatte nicht vor, meine berufliche Umgebung zu informieren, dass mein Kind höchstwahrscheinlich nur kurz leben wird, wenn überhaupt. Die andere Option, nichts zu sagen und eine glückliche Schwangerschaft vorzutäuschen erschien mir auch nicht angebracht. Vorerst versuchte ich sie vor meinen Kolleg*innen zu verstecken. Mittlerweile überschritt ich die 20. Woche und es war sinnvoll, wieder eine Kontrolluntersuchung zu machen. Einen Termin bekam ich erst für den 8. November. D.h. mein kleiner Junge konnte sich nach der ohnehin fatalen Diagnose rund 2 Monate ohne Kontrolluntersuchung weiterentwickeln. Mir war es nicht unrecht, da die erfahrungsmässige Prognose bei Trisonomie 18 nur in Aussicht stellte, dass eine Menge an belastenden Auffälligkeiten an diversen Organen oder Gliedmassen festgestellt wird. Nur dann
wurde ich mit der verstreichenden Zeit doch etwas nervös: Wie lange wird mein Kind in meinem Bauch leben? Wird er Weihnachten überstehen? Der errechnete Geburtstermin war Ende Februar, aber es gab auch Berichte, dass Kinder relativ früh im Bauch versterben. Was wird der Arzt, der uns die furchtbare Diagnose stellte, alles sehen? Welche Entscheidungen werde ich dann treffen müssen?
Bevor ich diesen Termin hatte, war ich seit dem Sommer das erste Mal wieder bei meiner Familie. Es war entspannt. Ich hatte das Gefühl, dass sie mit meinem Weg einverstanden sind. Und dass auch meine «unbekannte Grösse» im Bauch bei ihnen sehr willkommen ist und das drückte sich z.B. so aus, dass neben mir auch ihm liebevoll «Gute Nacht» gesagt wurde.
In meinem Heimatort konnte ich auch die Heilpraktikerin, meine Beraterin aus der Ferne, vor Ort treffen: Ich erzählte ihr nun persönlich meine aktuelle Verfassung und es wurde klar, dass mein Urvertrauen in das eigene Leben und dass es das Leben mit mir gut meint, stark erschüttert war. Ich hatte eine gewisse Grundangst vor der Zukunft und dem bevorstehenden Ereignis – der Untersuchung meines Kindes. An diesem Punkt konnte sie gut ansetzen und regte mich dazu an Ressourcen zu finden, die diese Zerrüttung heilen. Durch eine Entspannungsreise und bestimmte innere Bilder gelang mir das auch. In Bezug auf die bevorstehende Untersuchung bereiteten wir uns gemeinsam vor. Insgesamt tat mir der Aufenthalt im eigenen Familienkreis sehr gut. Mit dieser neuen Kraft bin ich auch den weiteren Untersuchungen entgegengegangen. Der Arzt fand heraus, dass sich mein Kleiner für seine Verhältnisse gut entwickelt hatte: Sein Herz – was meistens eine grosse Schwachstelle bei Trisonomie 18 ist – war relativ stark und versorgte seinen Körper gut. Es hatte zwar einen VSD (ein Loch in der Herzscheidewand), aber dieses war nicht so gross. Der Arzt nahm sich mehr als eine Stunde Zeit um das Herz genau zu untersuchen sowie auch die weiteren Organe – wie Nieren, Blase, Magen, Darm usw.: Sie arbeiteten gut. Auch die Physiognomie war wenig auffällig. Seine Füsse zeigten ein wenig die Trisonomie 18 an, aber er konnte die Finger gut öffnen und schliessen - sie waren nicht verkrampft, was ich eigentlich befürchtete. Ich freute mich, als ich sah, wie gut er sie trainierte. Ich wünschte mir, dass er mit ihnen die Welt spüren und erkunden darf. Bei seinem Gehirn gab es eine grosse Auffälligkeit – er hatte keinen Balken (keine Verbindung) zwischen den beiden Gehirnhälften. Ein fehlender Balken kann zu unterschiedlichen Ausprägungsgraden von Beeinträchtigungen führen: Eine äusserst starke Behinderung bis zur leichten oder einer kaum vorhandenen Beeinträchtigung. Auch das Kleinhirn war nicht normal entwickelt.
Dennoch war das Untersuchungsergebnis weitaus besser als mein Erwartungshorizont. Und es stand die Aussicht auf eine Lebendgeburt bevor: Das zeigte sich daran, dass Gespräche mit dem (grösseren) Spital anberaumt wurden, um so auf meinen Kleinen mit den besonderen Bedürfnissen vorbereitet zu sein. Das Ergebnis der Untersuchung vom 12. November (es gab einen weiteren Untersuchungstermin nach dem 8. Nov.) war ein wunderschöner Lichtblick für mich, da ich mich nun auf das mögliche Kennenlernen meines Sohnes vorbereiten durfte. Es hätte auch sein können, dass sie mir sagen, dass dieses oder jenes Organ Fehlfunktionen hat usw. und ich mich auf einen baldigen Abschied einstellen muss. Aber so war es nicht. Das heisst, dass ich Ende des Jahres zumindest eine rudimentäre Baby-Ausstattung anzuschaffen begann: Kinderwagen, Beistellbett, Sitz mit Schale für das Auto, um ihn – so es sein sollte – mit nach Hause nehmen zu dürfen. Ich stellte die Dinge jedoch nicht auf. Ich hatte Hemmungen, es zu tun und meine Hebamme sagte mir, dass ich das auch dann machen kann, wenn es wirklich so weit ist. Dieses Untersuchungsergebnis führte dazu, dass ich ausgehend vom Schlimmsten nun grosse Freude verspürte, bei der Hoffnung, ihn vielleicht sogar lebendig vor mir zu haben, zu spüren. Mein Partner hatte kurz nach diesem Ergebnis seine 3-wöchige Reise nach Lateinamerika. Danach sahen wir uns Anfang Dezember wieder, wobei mein Bauch bereits auf eine unübersehbare Grösse angewachsen war. Ich hatte inzwischen meine Freude mit dem Spüren seiner Bewegungen intensiviert, spielte ihm allabendlich eine Spieluhr vor und sagte ihm Gute Nacht und guten Morgen. Mein «gute Nacht» quittierte er meist mit einem Tritt. Es war schön, ihn so aktiv in meinem Bauch zu erleben. Er strampelte auch fleissig, wenn ich unter Leuten war – bei Meetings, Seminaren oder sonstigen Ereignissen, die mit anderen Menschen einhergingen. Mein Partner versuchte den Bindungsaufbau minimal zu halten, da ihm der drohende Verlust Sorgen machte. Das war etwas schmerzhaft für mich, da ich die Freude über das Dasein unseres Kleinen gerne geteilt hätte. Dennoch strich er manchmal über meinen Bauch und ich schaute auch, dass er unseren lebendigen Jungen auch mal spüren kann, indem ich seine Hand manchmal nahm. Gerade frühmorgens strampelte er gerne: Dann dachte ich bei mir – auch so ein Frühaufsteher wie mein lieber Mann.
In der Arbeit war es dann auch offensichtlich, dass ich schwanger war. Es war nun für mich in Ordnung, dass daraufhin strahlend freudige Reaktionen kamen. Ich fand, dass es in Ordnung ist, dass man sich auf mein Baby freut und mir Glückwünsche ausspricht. Auch wenn ich wusste, dass es wahrscheinlich ist, dass ich ihn nur kurz bei mir haben kann. Mir war die Freude lieber als erschrockene Gesichter, mit denen ich bei einer ehrlichen Offenbarung rechnen musste. Nur meine direkte Vorgesetzte wusste von den Diagnosen und Prognosen sowie das Personalmanagement: Hier ging es um die Abklärung der unterschiedlichen Varianten des Verlaufs meiner
Schwangerschaft: Worauf habe ich Anspruch, worauf nicht – welche Unterstützung könnte ich erhalten usw. Ich wusste bereits im November, dass ich auch bei einer vorzeitigen Geburt oder Totgeburt das Anrecht auf den Mutterschaftsurlaub haben werde. Ab einer bestimmten Anzahl von Wochen tritt diese Bestimmung in Kraft.
Im Dezember fand die Überstellung zum Universitätsspital statt, welches über eine Neonatologie verfügt und somit für mein Kind notwendig war. Der Erstkontakt mit abermaliger Untersuchung (18.12.) führte zur Bestätigung der Untersuchungsergebnisse. Die verantwortliche Ärztin empfahl mir, dass ich das Kind möglichst natürlich gebären soll. Das Gespräch schwenkte im Grossen und Ganzen auf eine palliative Geburt ein, obwohl sie diese nicht direkt beim Namen nannte. Mir wurde gesagt, dass es durch die Versorgung der Plazenta hin zum kindlichen Organismus einen Druck Richtung Herz gibt, der für das Kind problematisch werden könnte. Gleichzeitig rieten sie mir davon ab, ihn früher zu holen, da er dann schwächer auf die Welt kommen würde und noch weiter reduzierte Lebenschancen hätte, die ja ohnehin schon sehr gering waren. Es wurden dann weitere Fragen bezüglich der Geburt und mögliche nachfolgende Behandlungen aufgeworfen: Sie erstreckten sich von der Unterstützung der Beatmung bis hin zu möglichen Operationen – z.B. der Nabelschlingen, die ausserhalb des Bauches waren (Omphalozele). Diese Operation versuchte man gleichzeitig auch zu vermeiden, sodass wir Zeit mit unserem Kind hätten und nicht durch eine Operation mit ungewissem Ausgang (aufgrund der Schwäche des Kindes) davon abgehalten werden würden. Auf die vorgeschlagenen Vorgehensweisen zur Lebenserhaltung und Versorgung der Omphalozele eine Zustimmung zu geben, war zuerst schwierig. Da in jedem Schritt letztendlich bei mir als Mutter sehr viel Verantwortung lag und mein Wissen gering war. Es lässt sich nicht leugnen, dass ein Kind mit Trisonomie 18 nicht gleichbehandelt wird, wie ein gesundes. Hier kann die Frage angeschlossen werde, ob das so in Ordnung ist. Aber diesen Kampf (mit den Ärzten und dem Spital) wollte und konnte ich nicht mehr führen. Ich hatte mich letztendlich dafür entschieden einen möglichst natürlichen Weg mit Samuel zu gehen, denn ich sagte einmal zu meinem Kleinen im Bauch: Dass ich nicht weiss und beurteilen kann, wie es sich anfühlt, mit den körperlich schwierigen Bedingungen draussen – ausserhalb des Bauches – überleben zu müssen. Ich möchte ihn zwar gerne kennenlernen, aber dass ich meinen Willen nicht über ihn drüberstülpen werde. Ich habe für ihn gekämpft, dass er in meinem Bauch bleiben konnte. Aber ich habe ihn nicht früher holen lassen und bin so dieses Mal der Empfehlung der Ärztin gefolgt.
Insgesamt ging ich relativ freudig auf die Weihnachtsferien zu. Es stellte sich bei mir und meinem Partner die alljährliche Frage, wo wir Weihnachten verbringen werden. In diesem Jahr fiel die Entscheidung auf die familiäre Seite meines Partners und es wurde ein schönes Fest, das wir im kleinen Kreis sehr genossen haben. Silvester verbrachten wir in einem Haus in den Bergen zu zweit. Erst danach besuchte ich nochmals meine Familie. Auch die lange Reise mit dem Zug ging gut, obwohl ich schon in der 32./33. Woche war. Am 15. Januar gab es nochmals eine Untersuchung. Man stellte hier eine Vergrösserung des Herzens meines Kleinen fest, aber es gab keine weiteren Hinweise oder Warnungen. Auf diese Weise ging ich danach wieder nach Hause und wurde vereinbart, dass ich zur Geburt wiederkomme.
Die letzte Woche vor der Geburt und die Geburt selbst:
Er hatte sich schon früh in Geburtsposition gebracht – bereits Mitte Dezember – also, ca. zweieinhalb Monate zuvor. Ganz werde ich den Eindruck nicht los, dass er auf diese Welt neugierig war und uns gerne kennengelernt hätte. Aber seine körperlichen Bedingungen brachten leider keine guten Voraussetzungen mit sich. Sein Herz schaffte es nicht, so lange zu schlagen, bis die Geburt einsetzte, sondern verstummte am Beginn der 37. Schwangerschaftswoche.
Eine Woche vor der Geburt bemerkte ich, dass er sich auffällig weniger bewegte. Nach meinem Kurs zum Schwangerschaftsschwimmen hörte meine Hebamme an einem Montagabend die Herztöne ab – am Sonntag (einen Tag zuvor) und dem Montag selbst spürte ich ihn ungewohnt wenig. Sie beruhigte mich, dass das wohl normal sei und vorkommen könne. Ich las in diversen Foren nach und dachte mir, dass er nun evt. nicht mehr so viel Platz in meinem Bauch hat. Im Laufe der Woche war ich aus organisatorischen Gründen im Spital, um dort eine Hebamme kennenzulernen und wichtige Informationen für den kommenden Aufenthalt zu erhalten. Auch ihr erzählte ich meine Sorgen, abermals wurden die Herztöne kontrolliert und mir gesagt, dass ich mich nicht sorgen sollte: Sie seien im normalen Rahmen. Daraufhin wurden am selben Tag (es war der Mittwoch) die Bewegungen von meinem Kleinen intensiver und auch am darauffolgenden Tag - meinem letzten Arbeitstag, zeigte er sich wieder sehr aktiv. Nur kam es am Abend zu einem völligen Ausbleiben der Bewegungen und auch am frühen Morgen gab es kein Zeichen des Wachwerdens meines Kleinen, das er sonst immer mit einigen Tritten anzeigte. Ich geriet in Panik und kontaktierte meine Frauenärztin, die mich
sofort zu ihr bestellte. Innerlich fürchtete ich, dass sie keine Herztöne entdecken wird. Es war für uns beide nicht leicht und mir kullerten die Tränen bei der Untersuchung herunter. Aber sie entdeckte sein relativ munter schlagendes Herz. Bei der Untersuchung erwähnte sie, dass sein Herz vergrössert sei und ich sagte ihr, dass sie das auch am 15. Januar – vor 11 Tagen – festgestellt haben. Er versetzte mir auch nach dem Finden der Herztöne einen Tritt, den sie auch an der Bauchdecke sehen konnte. Ich wurde nicht damit konfrontiert, was das vergrösserte Herz bedeutet und ich hatte auch nicht nachgefragt. Ich war nur zutiefst erleichtert, dass ich ihn noch lebendig in mir trug. Am selben Tag spürte ich ihn mit relativ raschen Bewegungen am Nachmittag nach einem kurzen Powernap nochmals und dachte mir, dass das ihm gut gefallen hat. Das war das letzte Mal, dass ich ihn durch Bewegungen in meinem Bauch wahrnahm. Danach kam eine Freundin zum Abendessen. Beim zu Bett-Gehen hoffte ich, ihn wieder zu spüren. Aber er meldete sich nicht. Ich nahm dann noch ein Entspannungsbad und zündete dabei Kerzen an, was ich sonst nie machte.
Beim zu Bett gehen fröstelte mich. In der gesamten Schwangerschaftszeit war mir nie in der Weise kalt. Ich sagte mir trotzdem, dass ich mich nicht verrückt machen darf und dass es ein sehr anstrengender Tag war. Am nächsten Tag spürte ich ihn am Morgen wieder nicht. Ich rief meine Hebamme an – da es nun Wochenende war und fragte, ob sie Zeit hätte, z.B. am Nachmittag vorbeizukommen. Sie sagte mir, dass sie erst am Sonntagvormittag kann. Aufgrund der Erlebnisse am Vortag (Freitag) wollte ich nicht nochmals Panik verbreiten und sagte ihr, dass es in Ordnung sei. Ich beschloss, mich so gut es ging, abzulenken. Obwohl es Januar war, konnte man das erste Mal die Kraft der Sonne an diesem Tag gut spüren und es lag etwas Frühlingshaftes in der Luft. Ich landete auf einer Demo und da hatte ich das erste Mal das deutiche Gefühl, dass ich nun allein und Samuel nicht mehr mit mir war. Aber auch das versuchte ich zu verdrängen. Zu Hause angekommen, ruhte ich mich aus und am Abend kam mein Partner zu mir. Er wusste von den Sorgen und hoffte mit mir unser Samuel möge sich «melden», sich bewegen, aber es blieb ruhig in meinem Bauch. Ich wartete auf den Besuch der Hebamme am nächsten Morgen. Als sie da war, legte ich mich dann auf meine Couch. Nun konnte sie nur mehr das Pulsieren meines Herzschlags in der Nabelschnur hören. Der muntere Herzschlag meines Kleinen war nicht mehr zu finden. In diesem Moment war ich entgegen allen bisherigen Gefühlen aber nicht in Panik. Ich konnte es innerlich akzeptieren, dass mein kleines Kind es nicht weiter schaffte. Mein Partner weinte. Die Hebamme war in diesen Momenten für uns da und langsam besprachen wir, was als nächstes zu tun ist. Wir sollten uns noch Zeit für das Verabschieden nehmen, einen Spaziergang machen usw. Wir hätten sogar noch eine Nacht warten können. Aber wir entschieden uns dazu, dass wir nach am selben Tag ins Spital fahren.
Im Spital angekommen, wurde der Tod meines Samuels offiziell festgestellt: Ein letzter Ultraschall – wobei sie dieses Mal den Monitor von uns abwendeten. Ich hatte auch nicht das Bedürfnis ein Bild zu sehen. Sie bestätigten uns, was langsam als harte Realität einsickerte; sagten mir, dass er gut positioniert sei und die Geburt auf natürlichem Weg stattfinden kann. Als Geburtsvorbereitung erhielt ich eine Tablette (Mifegyne), da sie auch zur Erweichung und Öffnung des Gebärmutterhalses führt, der bei mir noch nicht reif für die Geburt war. Zuerst verbrachte ich noch eine Nacht in meinem eigenen Bett zu Hause – gemeinsam mit meinem Partner und kam erst zur Mittagszeit am nächsten Tag wieder in das Spital. In dieser Zwischenzeit hatte ich keine Schmerzen – auch kein Ziehen. Um die Geburt etwas zu erleichtern, nahm ich Sitzdampfbäder. Wir erhielten ein Einzelzimmer in der Geburtsabteilung und für meinen Partner wurde ein weiteres Bett gleich neben meinem aufgestellt. An diesem Nachmittag verabreichte man mir dann ein Wehenmittel (Misoprostol – besser bekannt unter Cytotec und in D seit 2021 verboten, da es zu sehr starken Wehen führt und wäre das Kind lebendig, könnte es für das Ungeborene gesundheitlich gefährlich werden). Am Abend hatte ich bereits Wehen in sehr kurzen Abständen. Die Geburt ging sehr schnell. Mein Partner konnte bei mir sein und die Betreuung durch die Hebammen war sehr gut. Es gelang der Hebamme mit der Hilfe von meinem Partner am späten Abend gerade noch, mich in den Gebärsaal zu verlegen. Ich wählte eine hockende Position und verzichtete auf stärkere Schmerzmittel. Es war mir wichtig, die Geburt – sofern ich das kraftmässig schaffe – bewusst zu erleben. Ich bereitete mich mental auf die Geburt vor, was u.a. ein wichtiger Schlüssel war, dass ich das kurze «Dasein» von unserem kleinen Samuel intensiv wahrnehmen, erleben konnte: Zwar konnte ich nicht wissen, wie die Geburt wird, aber arbeitete daran, mich auf den Prozess einzulassen und darauf zu vertrauen, dass ich es schaffe. Ich sagte mir, dass ich die Kraft habe sowie dass ich darauf vertraue, dass mein Körper die Fähigkeit hat, mein Kind zu gebären. Grundsätzlich hätte ich alle möglichen Schmerzmittel nehmen können – eine Reihe an Morphinen wurden mir im Krankenhaus angeboten, aber ich lehnte ab und sagte: Erst wenn ich das Gefühl habe, dass es nicht anders geht, würde ich sie nehmen. Mit der Anästhesistin wurde auch eine PDA vorbesprochen, aber sie wurde nicht notwendig. Nach rund 3 Stunden des ersten und einzigen Wehenmittels Misoprostol (vaginal) stellten sich die Wehen ein, die ich zuerst nur als ein Zusammenziehen und Wölben meines Bauches beobachten konnte. Hier war es mir noch ohne weiters möglich, ein wenig spazieren zu gehen (gegen 18 Uhr im Innenhof des Krankenhauses). Rund 2 – 3 Stunden später, war in eher kürzeren Abständen – vielleicht alle 2 Minuten - die Wehen deutlich zu spüren: Ich atmete sie neben meinem Partner auf einem
Gymnastikball sitzend aus und hatte aber noch das Gefühl, dass es lediglich die Einleitung ist und nicht wirklich schlimm. Der Muttermund war dann bei einer zwischenzeitlichen Kontrolle 1 cm geöffnet. In den nächsten eineinhalb Stunden ging es jedoch zügig voran. Vor dem Wechsel in den Gebärsaal willigte ich ein, dass sie mir die Schmerzmittel Buscopan und Paracetamol geben (man nimmt sie auch bei Zahnweh oder einer Grippe). Die Austreibungsphase dauerte vielleicht eine halbe Stunde und mein Körper gab ihn durch einen mächtigen Kraftakt gegen 23 Uhr frei. Das war rund 7 Stunden nach der Gabe des Wehenmittels.
Geburtsnacht und langsamer Abschied
Ich hatte einen wunderschönen 40 cm grossen und 1800g schweren Jungen geboren. Es waren mehrere Hebammen zugegen – es waren vier an der Zahl, da um 23 Uhr der Dienstwechsel stattfindet und so zwei von der Frauen-/Geburtsabteilung mitkamen (in den Gebärsaal) – eine, die uns während dem Einsetzen der Wehen begleitet hatte und eine weitere, die sie vom Dienst ablösen sollte und dann noch ein weiteres Paar Hebammen, die im Gebärsaal arbeiteten. Er mochte es immer gerne, wenn viele Menschen, bei ihm waren. Alle Hebammen sprachen darüber, dass er so ein hübscher Junge sei, was eine Mutter, die ihr nicht mehr lebendes Kind zur Welt bringt und dabei in eine Situation gerät, die sie sich mitnichten ausmalen konnte und angstbehaftet war – sehr berührt. Samuel war ein stark präsenter Junge, dem es gelang, dem Tod den unmittelbaren Stachel zu nehmen und seine Eltern mit liebevoller Ausstrahlung zu beschenken. In diesen ersten Momenten, Minuten und Stunden seines Daseins konnte der Schmerz nicht über das an sich Schöne – dass wir ihn sehen und bewundern dürfen - siegen. Es zählte nur, ihn in Händen halten zu dürfen, ihm alle Liebe, zu der man fähig ist, zu geben. Es dominierte ein Frieden und eine stille Glückseligkeit im Raum. Ein besonderes Moratorium, das uns zum Geschenk wurde und half, mit dem unvermeidlichen Schmerz, dass wir ihn nicht in das Leben auf der Erde begleiten dürfen, umgehen zu können. Er kam in der Nacht und zu jener Zeit wurde gerade kein anderes Kind geboren. So hatten wir eine beschützende Ruhe. Alle, die da waren, hatten Zeit und konnten unserem Bedürfnis im Moment für mehrere Stunden zu verweilen, entspannt begegnen. Ich musste etwas genäht werden, da die Wehen so stark waren. Mein Partner trug ihn in dieser Zeit eng an seiner Brust und danach konnten wir wieder zu dritt sein. Er wurde von der Hebamme fotografiert und so gibt es diese Bilder, die festgehalten haben, dass er da war. Wir brachten ihm ein spezielles Tuch mit, in das er nach der Geburt gewickelt wurde und das er behielt. Er wurde nach der Geburtsnacht in ein Körbchen aus Stoff mit Sternen gelegt. Gegen 3 Uhr morgens verabschiedeten wir uns von ihm für diese Nacht. Ich wurde in mein angestammtes Zimmer zurückgebracht und mein Partner und ich schliefen dann nebeneinander ein. Am nächsten Tag starteten wir langsam in den Tag, viele – ob Hebammen oder Ärztin fragten nach unserem Befinden. Nach einiger Zeit kam eine Musiktherapeutin vorbei und auch eine Seelsorgerin stellte sich vor. Mir gelang es, mit den Besucher*innen zu reden, und die Musiktherapeutin meinte, dass sie sogar am Nachmittag, wenn Samuel uns wieder gebracht wird, wiederkommen werde. Zuerst verbrachten wir die erste Zeit des Nachmittags mit unserem kleinen Schatz, der nun nicht mehr die Wärme meines Bauches in sich hatte, allein. Wir weinten und spürten gleichzeitig auch etwas Tröstendes, wenn er bei uns war. Irgendwie hielt er uns davon ab, dass wir in den Abgrund haltloser Traurigkeit rutschten. Da gab es ein liebevolles Netz seines Daseins, das es zu verhindern wusste. Nach einer guten halben Stunde Zeit, kam die Musiktherapeutin herein. Sie zeigte uns den Hang und andere Musikinstrumente. Sie improvisierte ein Lied für uns – für Samuel und seine Eltern – auf der Gitarre und sang dazu. Dieses Lied ist zu unseren Herzen vorgedrungen und hat unsere Tränen fliessen lassen. Es waren gute Tränen, die von der Liebe zu unserem Kleinen erzählten.
Der Nachmittag verging rasch und Samuel wurde wieder weggebracht – wir hätten ihn auch länger bei uns behalten können, aber wir wussten, dass sein Körper im Warmen nicht so lange bestehen würde können. So liessen wir ihn wieder «gehen». Körperlich ging es mir eher gut. Die Entlassung war bereits für den nächsten Tag – am Vormittag – angedacht. Wir konnten jedoch mitreden und baten darum, erst am frühen Abend zu gehen. So verbrachten wir einen weiteren Nachmittag im Zimmer mit unserem kleinen Samuel, der uns wieder gebracht wurde. Dieses Mal blieben wir mit ihm allein. Die Musiktherapeutin hinterliess uns die Gitarre und Hang. An diesem Nachmittag spielte ich für Samuel «I am sailing» auf der Gitarre und sang dazu. Mein Partner spielte auf dem Hang. Dieser musikalische Nachmittag tat uns gut. Danach verliessen wir das Spital. Aber konnten am Vormittag mit der Seelsorgerin vereinbaren, dass wir am nächsten Tag, dem Donnerstag, wiederkommen werden und ein Zimmer reserviert bekommen (ein kleines Besuchszimmer), wo er uns gebracht wurde und er dann auch einen Segen erhielt.
So verbrachten wir von Mittwoch auf Donnerstag die erste Nacht in meiner Wohnung und mussten den besonderen Kosmos unserer im Vergehen begriffenen kleinen Welt, die wir nahe mit Samuel hatten, verlassen. Der städtische Alltag fühlte sich unwirklich und bedrohlich an, da er uns aus diesen mit unserem Sohn verbundenen Schutzraum, herausholte. Die von uns sehr geschätzte Spitalsseelsorgerin bereitete für den Donnerstagnachmittag eine kleine Zeremonie mit Salbung vor. Sie schaffte einen schönen Rahmen, gab uns
Halt. Sie verwendete Mandelöl und schenkte uns ein Herz aus Olivenholz, sprach Psalmen, wir spielten ein oder zwei Lieder auf dem Handy ab – die wir sehr mit ihm verbanden, ich las ein paar Zeilen des Dankes an Samuel vor, wir sprachen gute Wünsche aus und zum Schluss segnete sie auch uns, sodass wir die Kraft haben, weiterzugehen. Nach diesem intensiven Nachmittag, der uns mit stärkender Energie versorgte, verliessen wir das Spital abermals und kamen erst nach eine paar Tagen am Sonntag wieder. Wir vergrösserten den Radius und die Zeitabstände zu Samuel – dieses Mal fuhren wir zur Wohnung meines Partners (die in einer anderen Stadt liegt) und kamen erst ein paar Tage später zurück. Zugegebenermassen hatte ich recht grosse Sehnsucht nach ihm und wartete schon auf das Wiedersehen. Nach dem Wiedersehenssonntag fuhren wir sogar für ein paar Tage in die Berge und kamen dann am Mittwoch wieder zurück, um ihn zu sehen. Diese abermaligen Besuche, wo Samuel uns in das uns mittlerweile bekannte Zimmer gebracht wurde, waren wichtig, um den Prozess des Abschiednehmens bewusst durchlaufen zu können. Im Spital (er war auf der Geburtenabteilung für 10 Tage; danach wurde er in die Pathologie gebracht) wurden wir immer sehr freundlich begrüsst und er wurde uns liebevoll gebracht. Wir wurden nie gedrängt - auch wenn klar war, dass wir nicht unendlich lang bleiben konnten. Wir hatten Zeit, ihn wahrzunehmen und gleichzeitig zu spüren, wie er immer mehr ging. Mit diesem Spüren kam auch die Akzeptanz, dass es unausweichlich ist, ihn immer mehr loszulassen. Bei den Besuchen brachten wir ihm kleine Gaben mit – ob das eine kleine Puppe oder ein Kuscheltier oder eine Musik, die einem von uns besonders gefiel. Ich begann auch eine kleine Kindergeschichte zu schreiben, die von ihm und seiner Spielkameradin, Mira, handelte – damit er nicht so allein ist, wenn wir weg sind. Nach rund 10 Tagen musste er in die Pathologie gebracht werden. Damit waren Besuche kaum mehr möglich. Eine Woche später fand die Trauerfeier statt, die wir mit grosser Freiheit gestalten konnten – vom Orgelspiel, Wahl der Kapelle, dem kleinen Kreis Trauergäste bis hin zur Zeremonie, die wir gemeinsam mit der Seelsorgerin besprachen. Der kleine geschützte Rahmen tat uns gut. Am Tag darauf gab es noch ein selbst gestaltetes Ritual mit guten Wünschen und Kerzen unterstützt durch unseren Freundeskreis bei mir in der Wohnung: An diesem Tag halfen alle zusammen und machten den Abend harmonisch und liebevoll. Es tat gut, so viel Unterstützung zu spüren.
Wege des Verarbeitens und Weitergehens
Von meinen Arbeitskolleg*innen und weiteren nahen Menschen, die gerade nicht vor Ort sein konnten, erhielt ich Karten, individuell und persönlich gestaltete Post oder auch eine Frühlingsblume. Ich antwortete ihnen – manchmal schrieb ich selber eine Karte, auf die ich z.B. ein Foto mit fliegenden Möwen klebte, das am Tag vor seiner Geburt entstand. Die vielen Gedanken und Unterstützungsangebote haben uns getragen. Aber das Wichtigste war für mich, dass ich die Verbindung mit Samuel auch nach seinem Tod leben konnte, indem ich z.B. Dinge für ihn gestaltete bzw. auch gemeinsam mit meinem Partner: Ob das eine Kerze war oder eine andere Kleinigkeit. Eine Kerze brennt fast immer für ihn. Er bleibt präsent. Gleichzeitig haben wir ihn aber auch losgelassen. Nach dem Loslassen ist er dann trotzdem in unseren Herzen geblieben.
Vor diesem Schritt, ihn innerlich loszulassen, hatte ich Angst. Denn es war schon schwierig genug, dass er nur so kurz da war und dann wollte ich, dass er nicht verschwindet, sondern dableibt und nicht in den Hintergrund tritt wie eine vergangene Geschichte. Als nach ein paar Tagen nach der Trauerfeier die Einäscherung stattfand, waren mein Partner und besonders ich nervös und unruhig. Ich fragte mich, ob es in seinem Sinn ist und hatte irgendwie Angst um seine Seele und kämpfte auch mit dieser Flüchtigkeit seines irdischen Daseins: Wir hätten ihn gerne bei uns gehabt und ins Leben begleitet. Ich wollte Samuel aber auch nicht meinen Gram und Trauer aufladen, sondern ihn auch all die Liebe zu Teil werden lassen, die andere (gesunde) Kinder bekommen können. Da habe ich ihm innerlich gesagt, dass er mein geliebtes Kind ist und ich ihm danke, dass er mir so gute Energie gegeben hat, als er in meinem Bauch war. Dass ich stolz bin, dass ich ihn tragen durfte und die Bauchzeit mit ihm genossen habe. Ich sagte mir, dass es sicher nicht in seinem Sinn ist, mich durch sein Weggehen aus dieser Welt als Häufchen Elend zu hinterlassen. Er soll wissen, dass er mich als mein Sohn trotz seines lebensfeindlichen genetischen Bauplans in meinem Leben Wichtiges mitgegeben hat: Liebe, Stärke und Mut. Als er endgültig seine irdische Form verlassen musste, habe ich ihm innerlich alle Liebe und Schutz im Gedanken gesendet, zu der ich fähig war. Habe für ihn gebetet, dass er sich frei fühlen möge und gleichzeitig geliebt, geborgen und behütet. In diesen Momenten – wo ich mich auf das Loslassen seiner Seele eingestellt habe und ihm eine gute Begleitung bis zum Schluss sein wollte, passierte etwas Schönes: Ich hatte das Gefühl, dass ein Teil von ihm immer bei mir sein wird und ich mir darum keine Sorgen machen muss. Ab diesem Tag hatte ich nicht mehr die Angst, dass ich ihn verloren habe. Mir ist bewusst, dass man all das, was ich schreibe, als haltgebende Illusion ansehen kann. Aber ich gönn mir diese «Spinnerei»/diese Verarbeitungweise. Ich denke mir, dass es bestimmt viele Wege gibt mit der Trauer eines so schweren Verlusts umzugehen. Es ist in Ordnung seltsame Dinge zu tun – basteln oder viele Kilometer pilgern, Gespräche mit dem Kind führen, innere Bilder und Geschichten zu haben. Mein Partner schlug vor, dass wir nach der
Trauerfeier einen kleinen Urlaub machen. Er hat uns gutgetan und neue Energie gebracht – auch wenn wir die ersten Schritte in dieses «Danach» zögerlich und vorsichtig machten, aber mit der Zeit ging es leichter und durfte sich zwischendurch auch etwas Unbeschwertheit einstellen