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Samuel
partielle Trisomie 10q
geb. Juli 1992
Zuletzt aktualisiert: 09.04.2002
Liebe Leona-Familie,
wir wissen erst seit einigen Wochen, dass unser Samuel eine Chromosomenanomalie hat. Beim Beratungsgespräch von dem Arzt, der mit uns geredet hat, und uns wirklich sehr umfassend und aufrichtig erklärt hat, was bei Samuel so anders ist, haben wir von Leona gehört. Er hat uns dringend geraten, mit Euch Kontakt aufzunehmen, denn hier würden wir mehr erfahren, als er uns sagen kann. Samuel sei das einzige Kind, das in der Humangenetik in Tübingen untersucht worden sei, und diese Anomalie aufweise. Er habe auch nichts über einen vergleichbaren Fall in der Literatur gefunden, sei aber noch auf der Suche.
Kaum zu Hause habe ich mich also an den Computer gesetzt und die Homepage von Leona aufgerufen. Nachdem ich gelesen hatte, dem ein oder anderen Link gefolgt bin, hatte ich zum ersten Mal seit fast 10 Jahren das Gefühl, ein riesiges Glück zu haben. Was hätte alles sein können, wie gut geht es Samuel, wie gut geht es uns!
Langer Rede kurzer Sinn, hiermit möchte ich Samuel und seine Familie vorstellen:
Elke, 37
Thomas, 37
Mathias, 11
Samuel, 9
Paul, 6
Samuel sollte 16 Monate nach seinem großen Bruder zur Welt kommen. Die Schwangerschaft verlief recht turbulent, weil Mathias an einer Hirnhautentzündung erkrankte, als ich in der 25. Woche mit Samuel schwanger ging. Während dem Rest der Schwangerschaft drehte sich alles um Mathias, der langsam wieder gesund wurde. Zwei Wochen vor dem errechneten Termin, am 26.7.92 drängte Samuel auf die Welt. Die Geburt war sehr anstrengend für uns beide. Er kam spontan zur Welt, innerhalb von nur knapp zwei Stunden, die nur aus Wehen zu bestehen schienen. Kaum war er entbunden, gab meine Gebärmutter auf: sie erschlaffte, konnte so den Mutterkuchen nicht ausstoßen und ich verlor schnell sehr viel Blut. Alles rannte zusammen, kümmerte sich um mich. Nach einem Blick auf Samuel wurde er in warme Tücher gewickelt und Thomas in die Arme gelegt. Es ging ihm gut, er war eben den Umständen entsprechend erschöpft. Ich bekam eine Vollnarkose und die Plazenta wurde mit der Hand geholt.
Als ich wieder zu mir kam, wurde mir erzählt, dass Samuel Klumpfüße hätte und ein Ohranhängsel. Wegen der Füße würde in den nächsten Tagen ein Orthopäde kommen, und das Ohranhängsel würde sich ein Chirurg anschauen. Wenn es nur aus Haut bestünde, würde man es gleich abbinden, sonst müsse man sehen. Samuel litt heftig unter einer neugeborenen Gelbsucht, aber ansonsten schien alles in Ordnung. Mir fiel auf, dass er die Brustwarzen nicht richtig fassen konnte. Er behielt immer seine Zunge am Gaumen. So war das Trinken an der Brust sehr anstrengend und wenig erfolgreich. Wir halfen ihm dann mit Stillhütchen, damit ging es dann etwas besser, er gab trotzdem immer schnell wieder auf.
An seinem dritten Lebenstag kamen die angekündigten Ärzte. Samuels Beine wurden bis zur Hüfte eingegipst und der Arzt machte uns Hoffnung, dass alles gut werden würde, evtl. müsse Samuel in einem Jahr operiert werden, aber das müsse man sehen. Der Chirurg erklärte uns, dass das Ohranhängsel aus Knorpel bestünde, und man es deshalb richtig operieren müsste, wenn man es weg haben wollte. Wir wollten nicht, bzw. es Samuel überlassen ob es ihn stört oder nicht. Aber, so meinte der Chirurg, es seien relativ häufig Nierenmissbildungen mit diesen Ohranhängseln verbunden, wir sollten deshalb bald einen Ultraschall von den Bauchorganen machen lassen.
Nachdem ich mich einigermaßen und dank Transfusionen erholt hatte, gingen wir nach Hause. Die Ultraschalluntersuchung bei der Kinderärztin zeigte keine Auffälligkeiten. Wir gingen wöchentlich in die orthopädische Ambulanz, wo Samuels Füße mittels Gips redressiert wurden. Außerdem waren die Nachsorgeuntersuchungen von Mathias zu machen, so dass wir viel mit den Kindern unterwegs waren. Samuel trank immer noch nicht gut. Es fehlte ihm an Ausdauer und der nötigen Technik, so dass er immer nie genug erwischte und schnell wieder Hunger hatte. Auch schien er sich immer noch erholen zu müssen. Ich war auch noch nicht wieder auf dem Damm, und so schleppten wir uns gemeinsam durchs Wochenbett. Irgendwann konnte ich nicht mehr. Ich fror nur noch, und Samuel gefiel es auch nicht an der Brust. Ich stillte ab, Samuel bekam nach sechs Wochen industrielle Babynahrung, der Stress war weg, und uns ging es besser.
Samuel entwickelte sich dann "normal". Warum ich das in Anführungszeichen setze? Wäre er unser erstes Kind gewesen, hätten wir dem auch nicht widersprochen. Die Kinderärztin, auf seine ungelenken Bewegungen, sein spätes Zahnen (1. Zahn mit 11 Monaten), sein vermehrtes Speicheln angesprochen, beruhigte uns: Mathias sei ein Überflieger gewesen, Samuel brauche einfach mehr Zeit. Es blieb ein komisches Gefühl im Bauch, aber einen echten Beweis konnten wir auch nicht liefern: er saß, krabbelte, lief, sprach und lernte sonst alles, was er sollte, in der vorgegebenen Zeit. Weil sein Blick der zeigenden Hand nicht folgte, gingen wir zum Augenarzt: eine leichte Fehlsichtigkeit, die er aber kompensieren kann. Weil er Aufforderungen nicht nachkam, gingen wir zum Ohrenarzt: er hört gut, allerdings sollte man dringend die Polypen operieren, und nach den Nasennebenhöhlen schauen. Er wurde also operiert, und damit war sein ständiger Schnupfen besser, er war nicht mehr so oft krank. Seine Füße mussten nicht operiert werden, er wurde mit Einlagen versorgt und kam damit auch gut zurecht.
Allerdings ging er mit 2 Jahren immer noch, als hätte er es gestern erst gelernt. Zuerst dachten die Kinderärztin und der Orthopäde, es läge an seiner Klumpfußhaltung, aber dann fiel auch sein merkwürdiger Muskeltonus auf. War Samuel hypo- oder hyperton? Drei Fachleute - vier Meinungen! Außerdem war seine Feinmotorik nicht altersgemäß entwickelt. Im gelben Untersuchungsheft steht ab dem 2. Lebensjahr "Verdacht auf psychomotorische Retardierung".
Mit 3 Jahren kam er in den Regelkindergarten zu seinem Bruder in die Gruppe. Von den Erzieherinnen wurden wir auf die Frühförderstelle aufmerksam gemacht. Sie rieten uns, Samuel dort einmal vorzustellen. Seither bekommt er psychomotorische KG nach Bobath. Die Therapeutin erklärte uns, dass Samuel wahrscheinlich eine Raumwahrnehmungsstörung habe. Das wurde uns dann in der Entwicklungsneurologie von der untersuchenden Ärztin und der beurteilenden Kinderpsychologin bestätigt. Außerdem habe Samuel ein sehr unausgewogenes Begabungsprofil, das mit der Wahrnehmungsstörung zusammenhänge. Ich bin Krankenschwester und aus meiner Erfahrung mit Schlaganfallpatienten heraus konnte ich noch ergänzen, dass Samuel auch eine schlechte Körperwahrnehmung haben muss und ein Koordinierungsproblem. Bis heute fällt es Samuel sehr schwer, Rad zu fahren. Gut geht es nur, wenn er dabei auf seine Beine schaut. Auf den Rezepten für die Frühförderstelle stand jetzt auch: "Teilleistungstörung". Um die Ursachen für diese "Störungen" zu finden, wurde er mit allerhand Verdachtsdiagnosen (z.B. Aufmerksam-Defizit-Synrom (ADS), Minimale Cerebrale Dysfunktion (MCD), Asperger-Syndrom) von Therapeut zu Arzt und von Arzt zu Therapeut verwiesen, ohne dass er wirklich einmal ursächlich untersucht worden wäre, kein Schädel-CT, oder EEG, oder was auch immer. Die Verdachtsdiagnosen wurden immer so schnell wieder verworfen, wie sie gestellt wurden, weil immer irgendwas nicht gepasst hat. Samuel saß zwischen allen Stühlen, passte in keine "Schublade".
Mit Erreichen der Schulreife stellte sich die Frage, welche Schule Samuel besuchen sollte. Die Erzieherinnen im Kindi, seine Ergo- und Physiotherapeutinnen ermutigten uns, es in der Regelschule zu versuchen. Samuel sei normal intelligent, und bei Bedarf könne ihm ein Sonderschullehrer zur Seite gestellt werden, der Lehrerin und Schüler gleichermaßen unterstützen würde. Leider gerieten wir an eine Schule und eine Lehrerin, die Integration vermutlich nicht einmal buchstabieren konnten, geschweige denn wussten, wie man in so einem Fall vorgehen sollte. Die Lehrerin, Marke Einzelkämpfer, lehnte Samuel nach sechs Wochen rundheraus ab, wollte ihn nicht in ihrer Klasse und an ihrer Schule haben. Wohin er gehen soll, wusste sie nicht, auch nicht an wen wir uns wenden könnten. Hilfsangebote von uns, der betreuenden Psychologin und den Therapeutinnen lehnte sie ab, ließ nicht einmal Gespräche zu. Samuel hörte nur, was er alles nicht konnte, wo er versagte. Über Umwege hörten wir dann von einer Körperbehindertenschule, informierten die Lehrerin und die Schule über eine Verwaltungsvorschrift zur Integration behinderter Kinder und besagter Schule, und brachten so den Stein ins Rollen. Mittlerweile waren die Osterferien vorbei, Samuel hatte unnötig und unendlich gelitten und an Integration war nicht mehr zu denken! Also besucht Samuel nun das zweite Jahr schon eine Klasse im K-Zug dieser Körperbehindertenschule. Er erfährt dort, dass er durchaus lernen kann, ein geschätzter Klassenkamerad und willkommener Freund ist. Er wird geliebt, es geht ihm gut.
Weil bei uns eventuell ein größerer Umzug ansteht, wollten wir noch einmal einen Versuch wagen, heraus zu bekommen, was Samuel fehlt. Wir wollten verhindern, dass bei neuen Ärzten neue Verdachtsdiagnosen gestellt würden. Außerdem hat Samuel an seiner jetzigen Schule parallel zum Unterricht diverse Therapien, die mit "Verdacht auf" nicht unbedingt rezeptiert würden, und uns die Mittel fehlen, so etwas selbst zu bezahlen. Die Untersuchungen wollten wir hier machen lassen, wo alle Möglichkeiten vor Ort sind, und man Samuel in den verschiedenen Kliniken schon kannte. Weil ich schon ahnte, dass man Samuel wieder nur mit dem Hämmerchen neurologisch untersuchen würde, wenn ich nicht einen konkreten Hinweis liefern konnte, bat ich einen mir bekannten Kindercardiologen (ich arbeite im Herzkatheterlabor), ein Wort für Samuel und uns beim Chefarzt der Entwicklungsneurologie einzuwerfen, damit diesmal wenigstens organisch ein Hirnschaden (Sauerstoffmangel unter der Geburt? So lautete mein stiller Verdacht.) ausgeschlossen werden könnte. Er tat es, und so wurde Samuel erst einmal Blut zur Chromosomenbestimmung abgenommen (anderes steht noch aus). Samuel hat eine partielle Trisomie 10q. Damit sind all seine Besonderheiten erklärt, endlich.
In Eurer Homepage und Eurer ebenso liebenswert gestalteten Zeitung, für deren Zusendung ich mich herzlich bedanke, ist so viel vom Leid der betroffenen Kinder und Familien zu lesen. An Samuel erfahren wir nun, dass Chromosomenanomalien nicht immer mit einer Schwerstbehinderung einher gehen müssen, Samuel wird ein selbständiges Leben führen können. Und wir erleben Samuel auch als ein ungeheures Geschenk, nicht nur für unsere Familie. Denn Samuel ist das sozialste Menschenkind, das ich kenne, immer hilfsbereit, immer für andere da. Er ist ehrgeizig und ausdauernd, zärtlich und behutsam. Aber auch neugierig und mit einem unstillbaren Forscherdrang gesegnet. Er kann zwar das Kinderzimmer nicht aufräumen, seine Schuhe nicht binden und schlecht Regeln einhalten, aber er spielt immer mit, wenn er von seinen Brüdern aufgefordert wird, er teilt immer alles mit jedem und er verzeiht alles. Er kann lesen und wunderbare Geschichten erzählen, wen kümmert es dann, ob er die Rechtschreibung wird beherrschen können? Und wer braucht schon Mathematik? Seine große Liebe gilt den Tieren, und er zieht immer Männer den Frauen vor. Ich bin sicher, er wird seinen Weg gehen, er wird immer Freunde haben und Menschen, die ihn schätzen. Auf die, die ihn ablehnen, weil er nicht so funktioniert, wie die Masse, können wir alle verzichten!
Elke, Thomas, Mathias, Samuel und Paul Epperlein
Zuletzt aktualisiert: 09.04.2002