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Nils
Trisomie 18
geb. und gest. Mai 1997
Nils wurde nur 3 Wochen alt.
Zuletzt aktualisiert: Juni 1999
"Wir wollen nicht eingreifen"
Arne, 32, und Brigitte, 33, bekamen im Mai 1997 ihren Sohn Nils. Er hatte Trisomie 18 und überlebte seine Geburt nur drei Wochen lang. Dass Nils krank sein würde, wussten die Eltern nach einer pränatalen Diagnose.
"Den Triple Test hatten wir machen lassen, ohne groß darüber nachzudenken. Weil er positiv war, also auf eine genetische Veränderung hindeutete, schickte uns die Frauenärztin in eine Spezialpraxis für pränatale Diagnostik. Bis dahin glaubten wir an einen Fehler und nahmen den Test gar nicht ernst. Doch eine Ultraschall-Feindiagnose und eine Fruchtwasserpunktion bestätigten den Verdacht: Unser Kind würde Trisomie 18 haben, eine Kombination aller möglicher schwerer Behinderungen, die in der Regel spätestens binnen eines Jahres zum Tod führt.
Natürlich hat uns das den Boden unter den Füßen weggehauen, wir haben erstmal nur geheult. Aber glücklicherweise waren wir bei einem verständnisvollen Arzt und einer guten Beraterin. Niemand hat uns in eine bestimmte Richtung gedrängt. Diese Gespräche mit Professionellen waren wichtig, auch deshalb, weil sowohl Eltern als auch einige Freunde ziemliche Schwierigkeiten mit der Situation hatten. Wir nahmen uns Zeit füreinander, besprachen das Thema hauptsächlich miteinander. Dabei sind wir als Paar noch mehr zusammengewachsen, auch wenn es oft sehr schwer war und es in jedem von uns abwechselnd Ja und Nein sagte. Zu Anfang hatten wir beide zu einem Abbruch tendiert. Aber wollten wir wirklich so in das Schicksal eingreifen?
In den Beratungsgesprächen erfuhren wir, dass wir uns mit der Entscheidung Zeit lassen könnten, dass ein Abbruch immer noch möglich wäre. Also haben wir erstmal wie geplant geheiratet und sind dann für ein paar Tage ins Rheinland gefahren, in ein richtiges Luxushotel; das hatten wir zur Hochzeit geschenkt bekommen. Eigentlich fiel die Entscheidung für Nils im Hotelpool.
Wir haben viel Zeit darin verbracht, uns im Wasser treiben lassen und uns dabei vorgestellt, dass der Kleine gerade dasselbe macht - er schwimmt im Bauch herum und weiß von nichts. Und dass diese neun Monate wahrscheinlich die schönste Zeit in seinem ganzen Leben sind. Na, und dann haben wir beschlossen, dass wir ihm diese Zeit geben wollen. Er hat sie auch angenommen. Die Ärzte gingen davon aus, dass er viel zu früh kommen und vielleicht schon bei der Geburt sterben würde. Aber Nils kam termingerecht zur Welt und war gleich ganz wach.
Seine Augen hatte er weit aufgerissen, er hat die Welt quasi eingesogen, als wüsste er, dass er nicht viel Zeit hat. Wir haben ihn als so ein Geschenk empfunden, und natürlich war er wunderschön. Die Hände hielt er wegen der spastischen Lähmung zu Fäusten geballt, und seine Füße waren nach innen gedreht, das sah aus, als würde er steptanzen. Da er eine Kiefer-Gaumen-Spalte hatte, ernährten wir ihn mit einem Spezialsauger. Aber es fehlte eben auch die Herzscheidewand, so dass sich frisches und verbrauchtes Blut immer vermischten. Wir konnten Nils trotzdem aus dem Krankenhaus mit nach Hause nehmen.
Nach zwei Wochen hörte er zum ersten Mal auf zu atmen. Wir sind wahnsinnig erschrocken - dass er bald sterben würde, war schon wieder so weit weg. Danach, als er doch wieder atmete, kam es uns beiden derselbe Gedanke: Er hat mit uns geübt, um uns vorzubereiten. Wir konnten noch mit ihm spazierengehen, ihm den Wald, die Sonne und den Himmel zeigen. Aber eine Woche später ist er gestorben, in den Armen seiner Mutter eingeschlafen, und da konnten wir es auch akzeptieren. Wir haben ihn beerdigt und sind dann lange weggefahren.
Ein Dreivierteljahr später hat sich wieder Nachwuchs angekündigt - und damit stellte sich wieder die Frage nach Pränataldiagnostik. Natürlich haben wir uns ein gesundes Kind gewünscht und hätten gerne Sicherheit gehabt. Aber was hätte uns die Untersuchung wirklich gebracht? Egal, welches Ergebnis, ein Abbruch wäre nach der Erfahrung mit Nils keine Alternative gewesen. Also haben wir's gelassen. Dario kam völlig gesund zur Weit, und wir sind ungeheuer stolz auf ihn. Wie damals auf Nils."
Reportage in der Berliner Stadtzeitung Zitty, 06/99, Seite 15-18, unter dem Titel „Der Embryo-TÜV, Teil II"
Mit freundlicher Genehmigung der Eltern von Nils, der Zitty Verlag GmbH und der Autorin Meike Wöhlert
Zuletzt aktualisiert: Juni 1999